Geschichte des Gehörlosenverein Wallis
4. Die Gehörlosen und die Schule
Vor Géronde
Einer der ersten Menschen in der Schweiz, der sich für die Taubstummen interessiert, ist Pfarrer Heinrich Keller (1728-1802). 1786 veröffentlicht er « Recherchen über verbesserte Unterrichtsmethoden für Taubstumme ». Trotzdem wird erst 1813 das erste Schweizer Institut für taubstumme Kinder in Yverdon eröffnet.
Géronde
Im Wallis gibt es viele Taubstumme, aber bis zum Ende des XIX. Jahrhunderts sind die meisten sich selber überlassen.
Nach einem Besuch im Institut von Greyerz, gegründet 1890, ist Monsignore Blatter, Domherr der Kathedrale von Sitten und Gründer des Waisenheims für Gehörlose, begeistert. Er spricht mit Léon Roten, Chef des Departements für Volksschulbildung und dem Staatsrat Maurice de la Pierre. Zusammen erarbeiten sie ein Projekt. Für dessen Umsetzung wird eine Umfrage in allen Walliser Gemeinden über die Anzahl ihrer Taubstummen gemacht. Es sind insgesamt 283 im ganzen Kanton. Im Dezember werden Vereinbarungen mit dem Ordinariat der Diözese, Besitzer des früheren Klosters Géronde in Sitten gemacht, mit dem Ziel, dort ein Institut für Taubstumme einzurichten. Dem Kanton Wallis wird eine mietfreie, unbefristete Nutzung des ehemaligen Klosters gewährt, unter der Bedingung, die notwendigen Reparaturarbeiten zu übernehmen. Doktor Beck setzt sich im Grossen Rat für das Institut und die Taubstummen ein und das Projekt wird genehmigt. Drei Schwestern werden vom Institut Greyerz geschickt, um in Géronde zu arbeiten. Die Eröffnung des Instituts wird auf den 1. Oktober 1894 festgelegt.
Bei Schulbeginn werden neunzehn Kinder den Ingenbohler Schwestern anvertraut. Die Walliserin Schwester Bernalde, die sich vorher um das Institut Greyerz gekümmert hat, wird die Direktorin. Der Institutsgeistliche ist ihr Bruder, Pfarrer César Jaggi.
Die Anfänge im Institut sind schwierig und die damaligen Zeitschriften rufen ihre Leser zu Spenden für das Institut auf, entweder in Form von Bargeld oder Naturalien. Die Pension kostet einen Franken pro Tag. Elektrizität und fliessendes Wasser werden 1898 installiert.
1904 werden zwei Werkstätten eröffnet, ein Schuhmacher wohnt fest dort und ein Schreiner ein paar Tage pro Woche. So können Jugendliche einen Beruf erlernen. Eine Schwester, unterstützt von einer anderen Lehrerin, unterrichtet junge Mädchen im Nähen. Die Schüler wechseln zwischen Werkstatt und Schule.
1905 übernimmt der Kanton Wallis den grössten Teil der Unterhaltskosten. Das Institut zählt fünfzig Kinder beider Geschlechter, im Alter zwischen 8 und 16 Jahren. Für die jährlich stattfindende Prüfung werden die Eltern und einige Vertreter von Behörden, darunter der Regierungsstatthalter des Bezirks, zu einem Besuch eingeladen. Die Lehrmethode der damaligen Zeit konzentriert sich vor allem auf die Bewegungen der Lippen und der Zunge. Nach der Prüfung werden denjenigen Preise verliehen, die am deutlichsten aussprechen können.
1908 ergibt eine Untersuchung, dass es im Wallis 200 « anormale » Kinder gibt, die mehr oder weniger sich selber überlassen sind. Die Chefs des Departements des Innern und des Departements für Volksschulbildung beschliessen daraufhin, das Institut von Géronde für die « Anormalen oder Geistesschwachen » zu erweitern.
Am 25. Januar wird ein Hilfswerk zu Gunsten des Instituts gegründet : « Le sou de Géronde » (der Rappen von Géronde). Dank dem, bei dieser Aktion gesammelten Geld, können fünfzehn neue Schüler am Schuljahresanfang 1908 aufgenommen werden.
Gebrauchte Briefmarken sind im Institut ebenfalls gefragt, um einen kleinen Gewinn zu erzielen. Die damaligen Zeitschriften schreiben, dass « die kleinen Walliser Chinesen » sich damit befassen.
1910, 1911 und 1912 wird Werbung für Bienenstöcke gemacht, die von den kleinen Pensionären auf Mass angefertigt werden. « Gutes Material, sorgfältige Verarbeitung », kann man in den Zeitungen lesen.
Im November 1911 stirbt Schwester Bernalde im Alter von 49 Jahren. Sie wird in Géronde begraben.
Ab 1913 verpestet die nahe gelegene Fabrik von Chippis den Hügel von Géronde, die Weinberge, die Landschaft, die Bäume und die Kinder werden sogar krank.
1915 besuchen sechzig Kinder das Institut ; die Zahl ist stetig steigend. Am 17. Juli 1919, feiert das Institut sein 25-jähriges Jubiläum. Dank ihm haben mehr als tausend Kinder von einer Schulbildung profitiert. Von zivilen Behörden und religiösen Autoritäten wird eine Würdigung überreicht.
Bald danach werden Renovierungsarbeiten nötig. Der Staatsrat stimmt 1922 dafür und investiert 40 bis 50 Tausend Franken. Der Innenraum des Gebäudes (frühere romanische Kirche im XI. Jahr.), wird zu zwei Etagen ausgebaut, um Platz zu gewinnen.
Am 1. Oktober 1924 beginnen siebzig Schüler das neue Schuljahr ; alle Plätze sind belegt. Es gibt fünf Klassen mit Taubstummen, drei französische und zwei deutsche Klassen.
1927 sind es neunzig Pensionäre und 1928 müssen fünfzig zurückgewiesen werden. Ein Experte rät, das Gebäude zu wechseln, wegen der in der Nachbarschaft liegenden, gefährlichen Fabrik von Chippis. Zur gleichen Zeit werden geheime Verhandlungen zwischen dem Kanton Wallis und dem Hotel de l’Aiglon, das sich in Le Bouveret befindet, geführt. Die Angelegenheit ist finanziell von grossem Vorteil. Der Staatsrat lässt eine Umbaustudie anfertigen, um 300 Kinder unterbringen zu können. Einige sind dagegen, weil sich das Hotel in einer abgelegenen Gegend befindet und das Klima feucht und neblig ist, aber es wäre viel teurer, ein neues Institut ab nihilo zu bauen. So wird am 25. August 1928 der Kanton zum Besitzer des Hôtel de l’Aiglon in Le Bouveret, dem zukünftigen Institut für Taubstumme. Das Wohnzimmer wird zur Kapelle umgebaut und die Bäder zu Wohnungen für die Schwestern. Noch vor der offiziellen Eröffnung sind fast 150 Kinder angemeldet…
Le Bouveret
Am 23. November 1929 kann das neue Gebäude von Le Bouveret 131 Schüler aufnehmen.
Es sind siebzig Kinder mit Schwierigkeiten und einundsechzig Gehörlose. Der Zulauf ist gross und neue Klassen müssen eröffnet werden. Das neue Institut zählt 11 Klassen, davon 6 für Gehörlose, 4 für Kinder mit Schwierigkeiten und eine Haushaltsklasse für Mädchen im letzten Schuljahr.
Im November besuchen die Staatsräte das Institut von Le Bouveret, in Begleitung von Herrn Nicolas, Vertreter der Firma Philips in Sitten, mit der Absicht, Versuche mit Funkmikrophonen durchzuführen. Dabei sollen die Auswirkungen von Schallwellen auf die Bewohner geprüft werden. Vierzig Schüler bekommen einen Helm aufgesetzt und zum ersten Mal in ihrem Leben können sie ein Konzert mitverfolgen. Nach dem Konzert werden mit Übertragungsmikrofonen Versuche gemacht. Eine Lehrperson unterrichtet mit dem Mikrofon. Der Unterrichtsstoff wird von allen Schülern mit Helm sehr aufmerksam verfolgt. Es handelt sich um die ersten Untersuchungen dieser Art in der Schweiz. Die Direktion des Volksschuldepartements, dem das Institut von Le Bouveret untersteht, möchte die Radiophonie für alle Lektionen einführen. Die Versuche werden in grösserem Rahmen weitergeführt und zeigen überraschende Resultate. Staatsrat Walpen, der alles in seiner Macht Stehende veranlasst, um eine Weiterführung voranzutreiben, besucht das Institut Le Bouveret und ist von den erzielten Resultaten begeistert. Bewilligungen, das Institut zu besuchen, gehen nach London, Prag und Brüssel.
Im Dezember 1930 ist die Titelseite des « Nouvelliste » der Einweihung des Instituts gewidmet. Eine grosse Menschenmenge besucht diese Feier. Das Institut ist geschmückt und die Begrüssung wird von den Kindern vorgetragen.
Im Januar 1946 zählt das Institut 12 Klassen und 146 Kinder, davon 31 gehörlos. Der Besuch des « Schmutzli » im Dezember bringt einige Kinder zum Weinen.
Bald ist wieder eine Vergrösserung notwendig. 1951 muss man sogar fünfzig Kinder wegen Platzmangel ablehnen. 1954 wird ein Kredit für das Institut bewilligt.
Im Juni 1958, dank dem Architekten Mathey, wird das Gebäude umgestaltet. Ein weiteres Stockwerk wird gebaut. Die Räume werden gesegnet und eingeweiht. Zu diesem Anlass bereiten die Schüler eine Theateraufführung vor und die Feierlichkeiten werden mit einem Bankett abgeschlossen.
Dank dem Verkauf von viertausend Briefmarken, wird dem Institut Anfang 1959 ein Fernseher geschenkt.
Ein Presseartikel vom 23. März 1960, befasst sich mit « der Studie von Zahlen in Farbe » (farbigen Zahlenstäbchen). Diese Methode von Georges Cuisinaire wird in Le Bouveret mit Erfolg angewendet. Der Blick und die Berührung werden dabei genutzt, was zu schnellen Lernerfolgen bei den gehörlosen Kindern führt.
Am Samstag, 24. Oktober 1964 wird das 25-Jahr Jubiläum des Gehörlosenvereins Wallis im Institut gefeiert. Mehr als hundert Teilnehmer erweisen dem Präsidenten, Joseph Andereggen und den Schwestern des Instituts die Ehre. Eine grosse Theateraufführung mit gemimten Szenen findet statt.
Kurz nach Schuljahresbeginn, 1968, besuchen die Kinder eine Vorstellung des Zirkus Knie. Sie besitzen neues Schulmaterial : einen Bildschirm und Dias. Nach den Winterferien kommen einige Kinder mit Gelbsucht zurück und die Epidemie breitet sich im Institut aus. Zum Glück verläuft sie gut und nach Ostern können die Kinder wieder in die Schule zurück.
Im Mai wird vom ASAM (Verein gehörloser und blinder Menschen) ein Schreibwettbewerb veranstaltet und Francis Chatriand gewinnt diesen Wettbewerb im Alter von 15 Jahren für Le Bouveret.
Nach dem Tod von Direktor Fracheboud, im Dezember 1967, wird Staatsrat Marcel Gross sein Nachfolger.
1969 schaut man die erste Mondlandung am Fernsehen.
Die Knaben, welche das Institut verlassen, setzen, wenn möglich, ihre Ausbildung in Lausanne fort, in einem Lehrvorschulkurs für von Gehörlosigkeit betroffene Schüler. Die Mädchen können auch dorthin, müssen jedoch vorher die beiden Haushaltlehrgänge im Institut besuchen. Die Schüler vom Oberwallis bevorzugen eine Weiterbildung in der Deutschschweiz.
Im März 1980 organisiert das Institut ein Skilager in Anzère und einen Ausflug in den Jura für die Oberstufe. Die Anzahl Kinder ist rückläufig, bei Schuljahresbeginn im Herbst wird die Oberstufe in diejenige des Instituts in Freiburg integriert. Danach gibt es nur noch Klassen der Mittelstufe. Es muss für die schulische Zukunft eine Entscheidung getroffen werden. Dies ist das Ende des Instituts von Le Bouveret.
Das Gebäude gehört immer noch dem Wallis und wird seit 1986 an eine bekannte Hotelfachschule, das Hotelier Internat « César Ritz » vermietet.
Les Collines
Ende der siebziger Jahre, auf der Suche nach einer Schule für ihren Sohn, vernimmt Rosy Tschopp von Pfarrer Firmin Rudaz, dass es Gerüchte betreffend einer baldigen Schliessung des Instituts von Le Bouveret gebe. Die Kinder sollen demnach auf Wunsch der Eltern entweder in Freiburg, Lausanne oder Genf integriert werden. Vier Familien schliessen sich daraufhin zusammen und beschliessen, 1976 einen Verein zu gründen : den Verein Eltern von Kindern mit Hörbehinderung (APEDAV). Auf Anfrage des Eltern-Mitglieds Herr Lathion, setzt sich Herr Dupont, Präsident von Vouvry und Abgeordneter, im Grossen Rat für sie ein.
Die Doktorin De Wolf (hörend) kämpft ebenfalls seit mehreren Jahren mit grossem Elan, indem sie Geld spendet und die Anliegen der Gehörlosen vertritt, sich mit allen praktischen Vorstössen befasst, um schliesslich eine spezialisierte Klasse in einer Walliser Schule zu eröffnen.
Sie werden schliesslich gehört und die Wahl des Schulstandorts fällt auf Sitten. Bernard Amherdt, Bildungsdirektor, informiert den Verein, dass die Bemühungen für die Eröffnung einer Sonderschulklasse beim Departement für Volksschulbildung und dem Büro für Sozialversicherungen erfolgreich gewesen seien.
So wird im September 1978 eine Klasse nur für Hörbehinderte im Centre des Collines (Zentrum von Les Collines) eröffnet. Das Wallis wird also zum Wegbereiter in der Westschweiz. Es ist dem Waadtland voraus, welches ein Jahr später eine ähnliche Struktur vorschlägt. Die Schüler, die am Ende ihrer Schulzeit in Le Bouveret sind, gehen nach Freiburg ins Institut von Guintzet. Die jüngeren gehen nach Sitten. Der Verein arbeitet eng mit dieser neu gegründeten Klasse zusammen.
Bei Beginn ihrer Eröffnung, nimmt die Klasse sieben hörbehinderte Kinder auf. Die Schüler werden von einer Sonderpädagogin, Marlyse Beney, einer Logopädin, Elisabeth Sierro und einer Erzieherin, Marie-Claude Sauthier betreut. Die Integration der Schüler findet von Anfang an statt; sie besuchen sogar eine Anzahl Stunden in Klassen von Hörenden.
Ein Gebärdensprachkurs wird ab 1979 von Marie-Louise Fournier unterrichtet, welche auch da Pionierarbeit in der Westschweiz leistet. Der Kurs wird nicht nur vom Lehrpersonal der Hörbehindertenklasse, sondern auch von den Lehrerinnen der Integrationsklassen besucht.
Der Kindergarten, um welchen sich Elisabeth Gilloz kümmert, öffnet und schliesst je nach Bedarf. 1983 zählt die Kindergartenklasse 5 Schüler, die von verschiedenen Gegenden des Zentral-Wallis kommen (Leytron, Isérables, Savièse, Haute-Nendaz und Sitten) und eine neue Logopädin, Fräulein Christine Bagnoud, vervollständigt das Team.
Eine Primarklasse mit sechs Schülern, von denen eines ein paar Fächer in der Sekundarschule besucht, werden von Alain Chevalley betreut, in Zusammenarbeit mit der Logopädin Joëlle Doyen.
Die Kinder, welche am Mittag nicht nach Hause können, werden von zwei Erzieherinnen betreut. Sie essen im Heim St-Guérin, das in der Nähe von Les Collines liegt.
1984 bekommen die Schüler Lektionen in Rhythmik, die sie besonders mögen und nehmen an allen Veranstaltungen teil, die von der Schule organisiert werden. Überall dort, wo es möglich ist, werden die Kinder in den Unterricht mit den Hörenden integriert.
Das Hauptproblem besteht darin, einen harmonischen Übergang von der Schule zum Berufsleben zu schaffen. In den Lektionen wird versucht, die Schüler mit Besuchen in Firmen oder mit Schnupperlehren auf ein Studium oder eine Lehre vorzubereiten. Einige Jugendliche besuchen das Fach Mathematik in der Sekundarschule, andere beginnen eine Lehre und werden dabei weiterhin von ihrem ehemaligen Lehrer unterstützt.
Rolande Praplan gibt seit 1986 in Les Collines Gebärdensprachkurse. 1987 wird ein spezieller Raum für Psychomotorik im Zentrum eingerichtet. Und 1988 unterstützt der Verein APEDAV die Beschaffung eines Computers für die Klasse von Herrn Chevalley.
1988 wird das 20-Jahr Jubiläum der Sonderklassen für Gehörlose in der Schule von Les Collines gefeiert. Die Feier fällt auf den gleichen Tag, wie der Tag der Westschweizer Schüler, den 5. Juni. Ein weiter Weg ist in diesen zwanzig Jahren zurückgelegt worden. Die Klasse hat nun eine richtige Aufnahmestruktur: zwanzig Kinder sind in drei Kindergarten- und Primarklassen eingeteilt und ein Kindergarten betreut vier Kleinkinder im Alter von 2 – 4 Jahren. Die Zahl der Betreuer hat sich auch vergrössert: Sonderpädagogen, Erzieherinnen, Logopädinnen, Psychomotorikerinnen, Katechetinnen und gehörlose Erwachsene. Die Wahl der Kommunikation (Gebärdensprache oder gesprochene Sprache) wird bei jedem einzelnen aufgrund des Entscheids der Eltern oder den Fähigkeiten des Kindes berücksichtigt. Die Gemeinschaft von solchen Klassen und normalen Klassen im gleichen Gebäude ist ideal für eine gute Integration von gehörlosen Schülern.
Anlässlich der 20-Jahr Feier zeigt eine Fotoausstellung die Geschichte von Géronde und Le Bouveret und ein grosses Theater wird im Amphitheater von St. Guérin aufgeführt. Im Heim von St. Guérin wird ein Buffet für 200 Personen bereitgestellt. Philippe Steiner, Präsident der APEDAV und Claudy Fournier, Vize-Präsident des GVW, moderieren den Abend. Stéphane Faustinelli, Präsident der Katholischen Gemeinschaft der Gehörlosen im Wallis dankt Danielle Revaz für den Religionsunterricht für gehörlose Kinder seit 1978.